Lich und seine Orgelbau Tradition
Die Stadt Lich kann sich einer Tradition rühmen, die in Deutschland als einmalig zu bezeichnen ist. Seit über 400 Jahren werden hier Pfeifenorgeln gebaut. Der Beruf des ,,Orgelmachers“ hat alle Stürme der Zeiten überdauert und genießt hohes Ansehen. Die Orgelbaubetriebe in Lich legen auch heute, wie vor 400 Jahren, Zeugnis ihrer hohen Kunst und Meisterschaft ab. Individuelle Kunstwerke fordern in jedem Einzelfall die kreativen Kräfte unter Berücksichtigung historischer Erkenntnisse und persönlicher Erfahrungen.
In unserem Raum lässt sich die Orgel bis in das 13. Jahrhundert archivarisch zurückverfolgen. Im Dom zu Wetzlar muss damals schon eine Orgel vorhanden gewesen sein, denn eine Festschrift vom 5. Oktober 1279 lautet: ,,Egidii, Elyzabeth: que scilicet festa predicta statuimus in ecclesia nostra organis et canticis sollempniter celebranda. . .” In Lich wird ab 1590 Jörg Wagner als Organist an der Stiftskirche 1575 als Scholaster und ab 1593 als Dechant (decano) dort tätig. Seine Amtszeit als Stiftdechant währte 37 Jahre und wir finden seinen Grabstein heute noch in der Stiftskirche.
In der
Werkstatt der Wagners wurden über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren in drei
Generationen Orgeln höchster Qualität gebaut, die weit über die Grenzen Lichs
hinaus bekannt und geschätzt waren. Jörg (Jorge) Wagner hat wahrscheinlich
schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Orgelbauwerkstatt in Lich
betrieben, von seinem Sohn Georg Wagner sind zahlreiche Orgelbauten belegt, von
denen die Orgeln in Butzbach (1614, Gehäuse und Prospektpfeifen erhalten),
Rodenbach (1621, Gehäuse, Windlade und weite Teile des Pfeifenwerks inklusive
Prospektpfeifen erhalten) und Lich, Marienstiftskirche (1621-1624, Gehäuse,
Prospektpfeifen und 4 weitere Register erhalten) auch heute noch eindrucksvoll
Zeugnis ablegen. Zwei große und repräsentative Instrumente aus der Werkstatt
Georg Wagners existieren heute leider nicht mehr, nämlich die 1626 gebaute
dreimanualige Orgel für die berühmte Marburger Elisabethkirche und die
vermutlich um 1607 gebaute Orgel für die Klosterkirche Arnsburg, von der aber
immerhin die beiden Pedaltürme in der Licher Marienstiftskirche erhalten
geblieben sind. Von Georg Wagners Sohn Georg Henrich ist die Orgel in Büßfeld
erhalten, die ursprünglich 1651 für Homberg/Ohm erbaut wurde und die noch ihre
originalen Spanbälge inklusive Balgstuhl besitzt.
Die Orgelbauer gehörten damals der ,,gehobenen Bürgerschaft“ an und entstammten angesehenen Familien. Arnold Rucker z.B., der Orgelmacher von Seligenstadt, den Dürer auf seiner Reise in die Niederlande gezeichnet hat, hatte Advokaten und Professoren als Verwandte, welche im Dienste des Bischofs von Mainz standen. Auch die Verwandten der Orgelbauerfamilie Wagner waren Stiftsherren, Rektoren, Pfarrer und gräfliche Rentmeister im Schloss.
Die zweite Blüte im Licher Orgelbau begann, als Johann Georg Förster im Jahre 1842 eine Orgelbauwerkstatt eröffnete. Einer alten Chronik ist zu entnehmen: Im Alter von 14 Jahren war er bei der Reparatur der Orgel in der Marienstiftskirche in Lich behilflich, die damals der Orgelbauer Bernhard aus Romrod ausführte. Nach Vollendung dieser Arbeit kam er als Lehrling zu seinem Onkel, dem Schreinermeister Alexander Schneider in Steinbach. Nach dieser Lehrzeit ging er nach Romrod zu Orgelbauer Bernhard, um Orgelbauer zu werden. Herr Pfarrer Frank in Lich war ihm in seinem Weiterkommen sehr behilflich, da derselbe erkannte, dass aus ihm etwas werden könnte. Später arbeitete er noch bei den hochangesehenen Orgelbauern Bürgy in Gießen und Dreymann in Mainz, bevor er sich schließlich 1842 in Lich selbstständig machte. Nach einem ebenso erfüllten wie erfolgreichen Arbeitsleben und zahlreichen Orgelneubauten in Oberhessen starb er im 84. Lebensjahr am 28.12.1902.
Aus der Ehe Georg Försters mit Elisabeth Krämer, der Tochter des Orgelbauers Krämer aus Leusel, ging eine Tochter, Luise Förster hervor. Diese heiratete Karl Nicolaus, geboren am 9.11.1860 zu Steinbach. Karl Nicolaus war schon einige Jahre als Geselle in der Firma tätig und wurde später Teilhaber. Im Jahre 1900 übernahm Karl Nicolaus die Firma und baute Orgeln in Hessen, Thüringen und Unterfranken.
Die Söhne von Karl Nicolaus, Karl und Ernst, erlernten den Orgelbau im väterlichen Betrieb. Einem alten Brauch folgend gingen sie dann in die Fremde, um sich bei Meistern in Augsburg, im Rheinland sowie in Frankreich weiterzubilden. 1923 traten sie in die Firma ein. Doch schon 1924 starb Sohn Karl im Alter von 34 Jahren, so dass für den technischen Bereich und die Werkstattleitung ein Nachfolger gefunden werden musste. Unter mehreren Bewerbern für diese Werkmeisterstelle wurde der Orgelbauer Otto Heuss ausgewählt. Er begann seine Arbeit in Lich im Jahre 1928.
Leider waren just die Jahre ab 1928 für den Orgelbau sehr schwierig. Die Nachkriegszeit und die Weltwirtschaftskrise lähmten auch den Orgelbau; es wurden kaum neue Instrumente gebaut, man hatte einfach andere Sorgen. Was also tun? Orgelbaumeister Ernst Nicolaus, nun mehr Inhaber der Firma Förster & Nicolaus, zog mit seinem Werkmeister Otto Heuss durchs Land, um nach möglicher Arbeit Ausschau zu halten. Hier kam ihnen eine fundamentale Neuentwicklung zu Hilfe, die noch allerorts fehlte: der elektrische Gebläsemotor als Ersatz für die teilweise unzuverlässigen Calcanten (Balgtreter).
Die damaligen dramatischen Umstände dieser Ausbildung dokumentiert folgende Begebenheit: Die Orgel in der Marienstiftskirche war wieder einmal reparaturbedürftig geworden. Die seinerzeit pneumatische Traktur war so altersschwach, dass man eine Verbesserung nur durch den Einbau einer elektrischen Steuerung erzielen konnte. Es wurden auch einige klangliche Veränderungen vorgenommen und eine neue Windlade für das Pedal eingebaut. Diese neue Pedalwindlade war das Gesellenstück des jungen Orgelbauers Otto Josef Heuss (Sohn von Otto Heuss). Die damaligen Machthaber in Deutschland, besonders in den unteren Chargen, waren sehr eifrig, denn ,,Räder mussten rollen für den Sieg“. Der alte Orgelbauer und sein Lehrling rollten das Gesellstück und andere Orgelteile auf einem simplen zweirädrigen Karren von der Werkstätte, in der damaligen Butzbacher Straße, zur Marienstiftskirche.
Der oftmals zurückgelegte Weg zur Kirche führte durch die Kirchgasse an einem Handwerker vorbei, der genau registrierte, wann und wie oft der alte Orgelbauer mit seinem Lehrling passierte. So dauerte es nicht lange, bis vom Ortsgruppenleiter das Arbeitsverbot ausgesprochen wurde. Dennoch konnte der Lehrling Otto Josef Heuss seine Gesellenprüfung im Jahre 1944 erfolgreich ablegen.
Ein kurzer Aufschwung Mitte der dreißiger Jahre ermöglichte Orgelneubauten, doch dann begann der 2. Weltkrieg. Die Orgelbaufirma Förster & Nicolaus musste Tische und Stühle für Wehrmachtsunterkünfte und später Munitionskisten bauen. Um dennoch die Orgelbaulehre nicht zu gefährden, gab es eine Sonderregelung. Der älteste Orgelbauer in der Firma Anton Weinrich, der schon auf die 70 zuging, durfte den jüngsten Lehrling Otto Josef Heuss, weiter ausbilden.
Mit dem Ende des 2. Weltkrieges war aber Not und Elend nicht gebannt. Die wertvollen Materialien waren verbraucht, Maschinen und Werkzeuge veraltet. Dazu kam die menschliche Tragödie, dass eine ganze Generation Orgelbauer gefallen oder so schwer verwundet war, dass sie ihren geliebten Beruf nicht mehr ausüben konnten.
Der Firmeninhaber, Ernst Nicolaus, hatte mit seinem Werkmeister Otto Heuss den schrecklichen Krieg überlebt. Ungebrochener Enthusiasmus für die Sache half die ärgsten Probleme zu meistern. Orgelbauer fanden sich wieder zusammen und neue Aufgaben erbrachten neue Perspektiven. Nach Jahren der Entbehrungen wurden anfängliche Unzulänglichkeiten in Kauf genommen, Bedingungen, welche die junge Generation gottlob nur vom Hörensagen kennt. Der allmählich sich wieder etablierende bescheidene Wohlstand wie die großartige Leistung des Wiederaufbaues umfasste auch Kirchen. Die Musik beim Gottesdienst kam wieder zu Ehren und die ersten Bestellungen für neue Orgeln gingen ein, es ging wieder aufwärts! Im März 1949 konnte man wieder von einer Belegschaft sprechen: Der ,,jüngste“ Lehrling, Otto Josef Heuss, kam aus fast fünfjähriger russischer Kriegsgefangenschaft heim.
Die folgenden Jahre können als besonders glücklich bezeichnet werden, da die künstlerischen Ambitionen der Firma mit den Orgelbauideologien nach dem 2. Weltkrieg weitgehend einher gingen. Die besondere Rückbesinnung auf Prinzipien des barocken Orgelbaues wurde auch von Seiten der Organisten durch Professor Helmut Walcha unterstützt. Walcha, in Frankfurt tätig, war in Sachsen aufgewachsen und hatte das barocke Flair sehr persönlich erlebt. Besonders die Klangwelt des Orgelbauers Silbermann wurde zur neuen Leitlinie.